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Waldmann, M. R., & von Sydow, M. (im Druck). Wissensbildung, Problemlösen und Denken. In K. Pawlik (Hrsg.), Springer Handbuch Psychologie. Berlin-Heidelberg: Springer-Verlag.

[Textauszug: Einleitung]

   Das Thema Denken hat Philosophen und Psychologen lange Zeit beschäftigt. Bereits Aristoteles (384-322 v. Chr.) charakterisierte den Menschen als animal rationale, als vernünftiges Tier. Wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaften hängen von unserer Fähigkeit zu denken ab. Denkprozesse haben aber auch im Alltag eine große Bedeutung. Es gibt nur wenige psychologische Bereiche, bei denen Denken keine zentrale Rolle spielt.

   Allgemein versteht man unter Denken alle mentalen Vorgänge, bei denen Begriffe, Ideen, Vorstellungen und andere Formen der mentalen Repräsentation mental verändert, neu kombiniert und umgestaltet werden. Dabei ist ein wesentliches Merkmal des Denkens, dass hierbei geistige Produkte unabhängig von der aktuellen Wahrnehmungssituation gebildet werden können. Dies erlaubt es uns, Handlungsmöglichkeiten, Problemlösungen und Hypothesen mental durchzuspielen, die in der Realität oft nur mit großem Aufwand oder Risiko ausgetestet werden können. Denken gibt uns mithin ein gewisses Maß an Freiheit von den aktuellen situativen Gegebenheiten.

   Denken, ein Thema, das Philosophen über 2000 Jahre beschäftigt hat, wurde auch früh in der Psychologie zu einem wichtigen Forschungsthema. Während der Begründer der experimentellen Psychologie, Wilhelm Wundt, höhere Prozesse, wie das Denken, zumindest als Gegenstand der empirischen Psychologie ausklammerte, gehörte die Denkpsychologie zu den zentralen Themen der von Oswald Külpe begründeten Würzburger Schule. Zunächst hat man sich diesem Phänomen mit der Methode der Introspektion genähert. Diese Methode ergab erste wichtige Erkenntnisse, wurde aber zunehmend wegen des Mangels an Kontrolle und den Schwierigkeiten, die postulierten Theorien empirisch zu überprüfen, in Frage gestellt. Die nicht-introspektive, experimentelle Untersuchung von Denkprozessen begann mit den Untersuchungen der Gestaltpsychologie und wurde nach einer längeren, durch die Dominanz des Behaviorismus begründeten Pause zu einem zentralen Thema der aktuellen Kognitions- und Informationsverarbeitungspsychologie.

   Während die im Titel dieses Kapitels angedeutete Verknüpfung von Problemlösen, Denken und Wissen heute selbstverständlich erscheint, wurden diese Bereiche zu Beginn der kognitiven Wende der Psychologie am Ende der 50er Jahre zunächst getrennt untersucht. Ursprünglich hatte man gehofft, allgemeine bereichsübergreifende Prozeduren des Problemlösens und des Denkens zu entdecken, die auf beliebige Bereiche angewendet werden können. Zunehmend wurde aber klar, dass Problemlösen und Denken nicht hinreichend verstanden werden können, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit dem Bereichswissen untersucht, das wir mitbringen. Die Vorstellung, dass wir abstrakte Denkprozeduren völlig unabhängig von Weltwissen nutzen, hat sich als illusionär erwiesen. Viele Jahre stand deshalb die Untersuchung von Problemlösen und Denken in Bereichen im Vordergrund, in denen die Versuchsteilnehmer sehr spezifisches Bereichswissen haben. In den letzten Jahren zeichnet sich aber eine Trendwende ab. Auch wenn nach wie vor ein großes Interesse an spezifischem Weltwissen (z.B. Schachexperten; Expertensysteme) besteht, ist man zunehmend mehr daran interessiert, ob wir beim Problemlösen und Denken nicht auch abstraktere Formen von Vorwissen nutzen. Diese Wissensformen sind einerseits nicht so spezifisch wie konkretes Bereichswissen, auf der anderen Seite aber auch nicht so abstrakt wie logische Schlussschemata oder abstrakte Problemlösealgorithmen. Im Folgenden werden wir versuchen, die genannten Trends in den Bereichen Problemlösen und deduktives und induktives Denken nachzuzeichnen.

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